Luthers 95 Thesen - original und Neufassung zum Reformationsjubiläum 2017

95 Thesen - Bild von der ersten Seite auf Latein
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In der Kirchengemeinde Pegnitz (in der ich, Pfarrer Thomas Miertschischk, bis Anfang 2018 Pfarrer war) wurden im Jubiläumsjahr 2017 Luthers 95 Thesen an die Stadtpfarrkirche St. Bartholomäus (Nischen links und rechts vom Seitenportal) angeschlagen – Sonntag für Sonntag ein paar davon. Daneben stellten wir eine Neufassung für die heutige Zeit, die ich damals verfasst habe. Hier die Gegenüberstellung von Original und Neufassung zum Nachlesen.

  Luthers Thesen 1517
 
Thesen 2017
 
1 Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: "Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei. Jesus predigt: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ Damit meint er: Mensch, prüfe immer wieder deine Lebenseinstellung, deine Lebenswege – und zwar im Licht der Gegenwart Gottes!
2 Dieses Wort darf nicht auf die sakramentale Buße gedeutet werden, das heißt, auf jene Buße mit Beichte und Genugtuung, die unter Amt und Dienst der Priester vollzogen wird. Damit ist nicht gemeint: Gehe ab und zu zur Beichte oder in einen Beichtgottesdienst und lass dir vergeben.
3 Gleichwohl zielt dieses Wort nicht nur auf eine innere Buße; ja, eine innere Buße ist keine, wenn sie nicht äußerlich vielfältige Marter des Fleisches schafft. Es geht darum, sich der eigenen Unzulänglichkeiten bewusst zu werden und damit in Gottes Gegenwart zu leben. Das bedeutet auch, traurig (und manchmal verzweifelt) zu sein über meine eigene Fehlerhaftigkeit und über die Unfähigkeit von uns Menschen insgesamt, in Frieden miteinander, mit der Schöpfung und mit Gott zu leben.
4 Daher bleibt Pein, solange Selbstverachtung, das ist wahre innere Buße, bleibt, nämlich bis zum Eintritt in das Himmelreich. Diese Selbstprüfung im Licht der Gegenwart Gottes ist ein schmerzhafter Prozess. Doch im Himmelreich werden wir einst in Gottes Licht leben, ohne dass es wehtut.
5 Der Papst will und kann nicht irgendwelche Strafen erlassen, außer denen, die er nach dem eigenen oder nach dem Urteil von Kirchenrechtssätzen auferlegt hat. Keine kirchliche (oder weltliche) Instanz kann einem Menschen diesen schmerzhaften Prozess im Umgang mit Schuld und Fehlern erlassen oder ersparen.
6 Der Papst kann nicht irgendeine Schuld erlassen; er kann nur erklären und bestätigen, sie sei von Gott erlassen. Und gewiss kann er ihm selbst vorbehaltene Fälle erlassen; sollte man diese verachten, würde eine Schuld geradezu bestehen bleiben. Die Kirchen und ihre Vertreter/innen können den Menschen nur Gottes Vergebung zusprechen und ihnen dadurch und durch seelsorgliche Begleitung hilfreich zur Seite stehen.
7 Überhaupt niemandem vergibt Gott die Schuld, ohne dass er ihn nicht zugleich – in allem erniedrigt – dem Priester, seinem Vertreter, unterwirft. Gott ist barmherzig und bereit zu Vergebung und Versöhnung. Doch diese Vergebung kann ich mir nicht einfach selbst nehmen, sondern sie muss mir zugesprochen werden – von einer Schwester oder einem Bruder im christlichen Glauben.
8 Die kirchenrechtlichen Bußsatzungen sind allein den Lebenden auferlegt; nach denselben darf Sterbenden nichts auferlegt werden. Wenn Kirchen Richtlinien aufstellen, um den Zuspruch der Vergebung zu regeln, handelt es sich um rein menschliche Ordnungen. Sie dienen wie alle kirchlichen Regelungen dazu, der frohen Botschaft von Gottes Barmherzigkeit in der Welt Raum zu schaffen und sie vor Verfälschungen zu schützen.
9 Daher erweist uns der Heilige Geist eine Wohltat durch den Papst, indem dieser in seinen Dekreten Tod- und Notsituationen immer ausnimmt. Deshalb steht Barmherzigkeit über allen kirchlichen Ordnungen – und zwar ganz besonders dann, wenn Menschen in großer Not sind oder ihr Tod kurz bevorsteht.
10 Dumm und übel handeln diejenigen Priester, die Sterbenden kirchenrechtliche Bußstrafen für das Fegfeuer vorbehalten. Das, was Menschen nach ihrem Tod erwartet, ist alleine Gottes Sache. Die Kirchen und ihre Vertreter/innen haben darauf keinerlei Einfluss.
11 Jenes Unkraut von kirchlicher Bußstrafe, die in Fegfeuerstrafe umgewandelt werden muss, ist offenbar gerade, als die Bischöfe schliefen, ausgesät worden. Deshalb kann keine kirchliche Ordnung Einfluss auf das Schicksal eines Menschen nach seinem Tod haben.
12 Einst wurden kirchliche Bußstrafen nicht nach, sondern vor der Lossprechung auferlegt, gleichsam als Proben echter Reue. An welcher Stelle im Prozess der Aufarbeitung von Fehlern und Schuld der Zuspruch der Vergebung seinen Ort hat, hängt vom konkreten Fall ab. Es handelt sich um eine seelsorgliche Entscheidung, die nicht allgemein kirchlich geregelt werden kann.
13 Sterbende lösen mit dem Tod alles ein; indem sie den Gesetzen des Kirchenrechts gestorben sind, sind sie schon deren Rechtsanspruch enthoben. Verstorbene sind allen Regelungen und Gesetzen dieser Welt entzogen, also auch denen der Kirche.
14 Die unvollkommene geistliche Gesundheit oder Liebe des Sterbenden bringt notwendig große Furcht mit sich; diese ist umso größer, je geringer jene ist. Wir Menschen sehnen uns nach Gottes Gegenwart und spüren zugleich, dass es Kräfte in uns gibt, die uns von ihr wegführen. In Situationen (zum Beispiel angesichts des bevorstehenden Todes), in denen uns dies vor Augen steht, erschrecken wir vor uns selbst und vor der Möglichkeit, dass unsere Sehnsucht nach Gott niemals erfüllt werden könnte.
15 Diese Furcht und dieses Erschrecken sind für sich allein hinreichend – ich will von anderem schweigen –, um Fegfeuerpein zu verursachen, da sie dem Schrecken der Verzweiflung äußerst nahe sind. Dieses Erschrecken und die Angst vor der endgültigen Trennung von Gott sind schon genug „Fegefeuer“.
16 Hölle, Fegfeuer, Himmel scheinen sich so zu unterscheiden wie Verzweiflung, Fast-Verzweiflung, Gewissheit. Das, was von Menschen oft als Himmel, Hölle und Fegefeuer bezeichnet wird, könnte (weniger bildhaft) etwa so beschrieben werden:
„Himmel“ ist die Gewissheit, in Gottes Gegenwart zu leben.
„Hölle“ ist die Verzweiflung darüber, von Gott getrennt zu sein.
„Fegefeuer“ ist das Erschrecken über uns selbst und die damit verbundene Traurigkeit und Angst.
17 Es scheint notwendig, dass es für Seelen im Fegfeuer ebenso ein Abnehmen des Schreckens wie auch ein Zunehmen der Liebe gibt. Das Licht der Gegenwart Gottes führt nicht einfach dazu, dass wir über uns selbst erschrecken, und lässt uns dann mit unserer Angst alleine. Sondern weil Gott barmherzig ist, heilt sein Licht unsere Wunden, nimmt uns unsere Angst und hilft uns, barmherziger zu werden mit uns und unseren Mitmenschen.
18 Und es scheint weder durch Gründe der Vernunft noch der Heiligen Schrift erwiesen zu sein, dass Seelen im Fegfeuer außerhalb eines Status von Verdienst oder Liebeswachstum sind. Das Licht und Feuer von Gottes Gegenwart zeigt uns also nicht einfach nur unsere Fehler, um sie dann unbarmherzig wegzubrennen, sondern stößt einen (auch schmerzhaften) Veränderungsprozess an und begleitet uns darin.
19 Und auch dies scheint nicht erwiesen zu sein, dass sie wenigstens alle ihrer Seligkeit sicher und gewiss sind, mögen schon wir davon völlig überzeugt sein. Die Kirchen können diesen Prozess nur unterstützen, aber nicht „von außen“ über seinen Ausgang entscheiden.
20 Deshalb meint der Papst mit „vollkommener Erlass aller Strafen“ nicht einfach „aller“, sondern nur derjenigen, die er selbst auferlegt hat. Es muss genau unterschieden werden zwischen menschlichen (auch kirchlichen!) Ordnungen und dem, was vor Gott gilt. Menschen (auch Vertreter/innen der Kirchen!) können nur im Bereich menschlicher Ordnungen Entscheidungen treffen.
21 Es irren daher diejenigen Ablassprediger, die da sagen, dass ein Mensch durch Ablässe des Papstes von jeder Strafe gelöst und errettet wird. Wer behauptet, es gebe für den Menschen eine Möglichkeit, nach einer menschlichen Ordnung (etwa durch Spenden, gute Taten, …) zu beeinflussen, wie er vor Gott dasteht, der gibt ein leeres Versprechen.
22 Ja, der Papst erlässt den Seelen im Fegfeuer keine einzige Strafe, die sie nach den kirchenrechtlichen Bestimmungen in diesem Leben hätten abtragen müssen. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Gott ist frei, über alle menschlichen (auch kirchlichen!) Ordnungen und Festlegungen hinaus barmherzig zu sein.
23 Wenn überhaupt irgendein Erlass aller Strafen jemandem gewährt werden kann, dann ist gewiss, dass er nur den Vollkommensten, d. h. den Allerwenigsten gewährt werden kann. Kein Mensch ist so vollkommen, dass er aus eigener Kraft oder durch Befolgung kirchlicher Ordnungen vor Gott bestehen kann. Gerade diejenigen, die fast vollkommen sind, haben erkannt, dass sie auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen sind und durch Gottes Barmherzigkeit das sind, was sie sind.
24 Unausweichlich wird deshalb der größte Teil des Volkes betrogen durch jene unterschiedslose und großspurige Zusage erlassener Strafe. Wer auch immer (Kirchen, Religionen, religiöse, spirituelle, esoterische oder ähnliche Bewegungen, Gesundheitsapostel, Fitness-Gurus, Politiker …) den Menschen leichtfertig Erlösung, Befreiung oder Ähnliches verspricht, betrügt sie.
25 Die Vollmacht, die der Papst über das Fegfeuer im allgemeinen hat, hat jeder Bischof und jeder Pfarrer in seiner Diözese und in seiner Pfarrei im Besonderen. Vertreter/innen der Kirchen haben durch Ausbildung, persönliche Begabungen und die daraus folgende Berufung zu ihrem Dienst den Auftrag, Menschen seelsorglich zu begleiten (Thesen 5+6) und solche Begleitung zu organisieren.
Darüber hinaus haben sie keine besondere Vollmacht – auch dann nicht, wenn sie ein hohes Amt innehaben.
26 Der Papst tut sehr wohl daran, dass er den Seelen nicht nach der Schlüsselgewalt, die er so gar nicht hat, sondern in Gestalt der Fürbitte Erlass gewährt. Sie können nicht in irgendeiner besonderen Weise auf Gott und seine Barmherzigkeit einwirken. Sie können „nur“ seelsorglich begleiten und mit den und für die Menschen beten (wie im Prinzip alle Christen je nach ihren Begabungen).
27 Lug und Trug predigen diejenigen, die sagen, die Seele erhebe sich aus dem Fegfeuer, sobald die Münze klingelnd in den Kasten fällt. Derjenige betrügt die Menschen, der behauptet, man könne sich durch Geldzahlungen oder Ähnliches die schmerzhaften Wegstrecken auf seiner Reise zu / mit Gott ersparen.
28 Das ist gewiss: Fällt die Münze klingelnd in den Kasten, können Gewinn und Habgier zunehmen. Die Fürbitte der Kirche aber liegt allein in Gottes Ermessen. Wer solches behauptet, nutzt die Angst der Menschen vor Gottesferne und ihre Sehnsucht nach Erlösung aus, um dadurch Gewinn zu erzielen.
29 Wer weiß denn, ob alle Seelen im Fegfeuer losgekauft werden wollen, wie es nach der Erzählung bei den Heiligen Severin und Paschalis passiert sein soll. Tatsächlich ist der oben beschriebene (Thesen 1-4) Prozess der Selbstprüfung und Veränderung zwar manchmal schmerzhaft, aber auch notwendig und heilsam.
30 Keiner hat Gewissheit über die Wahrhaftigkeit seiner Reue, noch viel weniger über das Gewinnen vollkommenen Straferlasses. Kein Mensch kennt die Wahrheit über sich selbst so genau, dass er sicher wissen kann, wie er oder sie vor Gott dasteht. Wir sind immer nur auf dem Weg zu Gott und zur Wahrheit über unser Leben, über uns als Person.
31 So selten einer wahrhaftig Buße tut, so selten erwirbt einer wahrhaftig Ablässe, das heißt: äußerst selten. Wir sind also in dieser Welt niemals gänzlich im Reinen mit uns und mit Gott. Nur im Hinblick auf Teilbereiche unseres Lebens, bestimmte Ereignisse oder Wegstrecken etwa mag das der Fall sein – aber auch da nur sehr selten.
32 In Ewigkeit werden mit ihren Lehrern jene verdammt werden, die glauben, sich durch Ablassbriefe ihres Heils versichert zu haben. Deshalb kann es keine theoretische, sozusagen durch „Brief und Siegel“ bestätigte Sicherheit darüber geben, wie ich vor Gott dastehe.
Im Gegenteil: Eine solche scheinbare Sicherheit entfernt mich eher von Gott, weil sie mich davon abbringt, auf dem Weg zur Wahrheit über mich als Person und zu Gott weiterzugehen.
33 Ganz besonders in Acht nehmen muss man sich vor denen, die sagen, jene Ablässe des Papstes seien jenes unschätzbare Geschenk Gottes, durch das der Mensch mit Gott versöhnt werde. Das, wonach wir uns in unserem Innersten sehnen (Wir nennen es „Heil“, „Gottesgegenwart“, „Sinn“, „Frieden“, „Liebe“, „Halt“ oder auch anders.), können wir nicht wie eine Sache oder einen Anspruch durch Geld oder auf andere Weise erwerben und dann besitzen.
Wer das behauptet und es so anbietet (siehe These 24), der treibt ein unheilvolles Spiel mit der Sehnsucht der Menschen.
34 Denn jene Ablassgnaden betreffen nur die Strafen der sakramentalen Satisfaktion, die von Menschen festgesetzt worden sind. Besitz- oder Rechtsansprüche gibt es nur im Bereich menschlicher Ordnungen und Regelungen, nicht aber im Hinblick auf die innere, persönliche Entwicklung eines Menschen, die mit seiner tiefsten Sehnsucht zu tun hat.
35 Unchristliches predigen diejenigen, die lehren, dass bei denen, die Seelen loskaufen oder Beichtbriefe erwerben wollen, keine Reue erforderlich sei. Das Befolgen der Regelungen und Ordnungen der Kirche kann die persönliche Entwicklung des Menschen im Licht der Gegenwart Gottes niemals ersetzen. Vertreter/innen der Kirchen dürfen deshalb keinesfalls den Anschein erwecken, als wäre das möglich.
36 Jeder wahrhaft reumütige Christ erlangt vollkommenen Erlass von Strafe und Schuld; der ihm auch ohne Ablassbriefe zukommt. Wenn ich mich im Licht der Gegenwart Gottes der Wahrheit über mich selbst und mein Leben stelle, begegne ich Gottes Liebe und Barmherzigkeit.
37 Jeder wahre Christ, lebend oder tot, hat, ihm von Gott geschenkt, teil an allen Gütern Christi und der Kirche, auch ohne Ablassbriefe. Diese Begegnung mit der Gegenwart Gottes, wie sie in Jesus in der Welt erschienen ist, versöhnt mich mit Gott und führt mich auf den Weg der Versöhnung mit mir selbst und meinen Mitgeschöpfen. Kirchliche Leitlinien können auf diesem Weg (wie auch schon auf dem Weg hin zur Begegnung mit Gott) hilfreiche Wegweiser sein, müssen es aber nicht.
38 Was aber der Papst erlässt und woran er Anteil gibt, ist keineswegs zu verachten, weil es – wie ich schon sagte – die Kundgabe der göttlichen Vergebung ist. Wir Menschen täuschen uns leicht darüber, ob wir uns in unserer persönlichen Entwicklung tatsächlich in Gottes Licht, in Gottes Gegenwart stellen – oder ob es uns nur so scheint. Deshalb brauchen wir die Gemeinschaft und den Austausch mit anderen Glaubenden. Hilfreich sind auch Leitlinien, die aus jahrhundertelanger Glaubenserfahrung stammen. Kirchliche Institutionen sind dafür wichtig.
39 Selbst für die gelehrtesten Theologen ist es ausgesprochen schwierig, vor dem Volk den Reichtum der Ablässe und zugleich die Wahrhaftigkeit der Reue herauszustreichen. Es ist allerdings nicht einfach, in den organisierten Kirchen die richtige Balance zu finden zwischen zweckmäßigen kirchlichen Ordnungen/Leitlinien und der Freiheit des eigenen Glaubensweges und der persönlichen Begegnung mit Gott.
40 Wahre Reue sucht und liebt die Strafen; der Reichtum der Ablässe aber befreit von ihnen und führt dazu, die Strafen – zumindest bei Gelegenheit – zu hassen. Es ist ein Zeichen dafür, dass ich wahrhaftig in der Gegenwart von Gottes Licht stehe, wenn ich mich dem Schmerz und der Trauer über die eigenen Unzulänglichkeiten und ihre Folgen stelle anstatt beidem auszuweichen. [vgl. These 3-5]
41 Mit Vorsicht sind die (päpstlich-)apostolischen Ablässe zu predigen, damit das Volk nicht fälschlich meint, sie seien den übrigen guten Werken der Liebe vorzuziehen. Der (kirchliche) Zuspruch der Vergebung im Namen des Lebendigen Gottes steht am Beginn, Neubeginn oder an kritischen Punkten des Weges der Entwicklung meiner Liebe im Licht der Liebe Gottes. Er ist nicht das Ziel meiner Entwicklung.
42 Man muss die Christen lehren: Der Papst hat nicht im Sinn, dass der Ablasskauf in irgendeiner Weise den Werken der Barmherzigkeit gleichgestellt werden solle. Der Zuspruch der Vergebung ist wichtig, weil Gott meinem persönlichen Weg der Liebe dadurch neue Lebendigkeit einhauchen will.
43 Man muss die Christen lehren: Wer einem Armen gibt oder einem Bedürftigen leiht, handelt besser, als wenn er Ablässe kaufte. Dieser Zuspruch kann den Weg der Liebe aber nicht ersetzen.
44 Denn durch ein Werk der Liebe wächst die Liebe, und der Mensch wird besser. Aber durch Ablässe wird er nicht besser, sondern nur freier von der Strafe. Denn die Befreiung von Belastungen meines Lebens, die wahre Lebendigkeit behindern, führt mich auf den Weg der Liebe, nicht zu schrankenloser Freiheit. Diesen Weg gehe ich gemeinsam mit meinen Mitgeschöpfen in Gottes Gegenwart.
45 Man muss die Christen lehren: Wer einen Bedürftigen sieht, sich nicht um ihn kümmert und für Ablässe etwas gibt, der erwirbt sich nicht Ablässe des Papstes, sondern Gottes Verachtung. Als Christ kann ich den Weg der Liebe und der Sorge für meine Mitgeschöpfe frei und mutig gehen. Denn von der Sorge darum, wie ich vor Gott dastehe, bin ich befreit.
46 Man muss die Christen lehren: Wenn sie nicht im Überfluss schwimmen, sind sie verpflichtet, das für ihre Haushaltung Notwendige aufzubewahren und keinesfalls für Ablässe zu vergeuden. Weil ich nicht ständig auf mein Schicksal im „Jenseits“ schauen muss wie das Kaninchen auf die Schlange, bin ich befreit zur Sorge für mich selbst im „Diesseits“. Auch diese Sorge gehört zum Leben eines Christen.
47 Man muss die Christen lehren: Ablasskauf steht frei, ist nicht geboten. Wir Menschen (gerade auch in den christlichen Kirchen) reden zu oft von Geboten, Gesetzen und zu befolgenden Regeln, anstatt auf die tiefste Sehnsucht unserer Mitmenschen (und auch die eigene!) zu achten und (seelsorglich) auf sie einzugehen.
48 Man muss die Christen lehren: Wie der Papst es stärker braucht, so wünscht er sich beim Gewähren von Ablässen lieber für sich ein frommes Gebet als bereitwillig gezahltes Geld. Ein wichtiges Element auf dem Weg der Versöhnung mit mir selbst, meinen Mitgeschöpfen und mit Gott ist das Gebet. In ihm stelle ich mich und meinen Lebensweg bewusst in das Licht der Gegenwart Gottes.
49 Man muss die Christen lehren: Die Ablässe des Papstes sind nützlich, wenn die Christen nicht auf sie vertrauen, aber ganz und gar schädlich, wenn sie dadurch die Gottesfurcht verlieren. In solchem Gebet vertraue ich mich allein Gott und seiner Barmherzigkeit an. Alles andere kann nur eine Hilfestellung für dieses Vertrauen sein – mehr aber nicht. Die Hilfestellung darf nicht an die Stelle des wahren Ziels unserer Sehnsucht treten.
50 Man muss die Christen lehren: Wenn der Papst das Geldeintreiben der Ablassprediger kennte, wäre es ihm lieber, dass die Basilika des Heiligen Petrus in Schutt und Asche sinkt als dass sie erbaut wird aus Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe. Leider verselbständigen sich die kirchlichen Institutionen (wie alle Institutionen) gerne und leiten die Sehnsucht der Menschen fehl, indem sie sich selbst als die Erfüllung dieser Sehnsucht ausgeben.
51 Man muss die Christen lehren: Der Papst wäre, wie er es schuldig ist, bereit, sogar durch den Verkauf der Basilika des Heiligen Petrus, wenn es sein müsste, von seinem Geld denen zu geben, deren Masse gewisse Ablassprediger das Geld entlocken. Stattdessen wäre es ihre Aufgabe, Menschen auf ihrem ganz eigenen Weg im Licht der Gottesgegenwart zu begleiten – ohne sich selbst zu wichtig zu nehmen.
52 Nichtig ist die Heilszuversicht durch Ablassbriefe, selbst wenn der Ablasskommissar, ja, sogar der Papst selbst, seine Seele für sie verpfändete. Wahre Heilsgewissheit kommt nicht durch das Vertrauen auf irgendetwas in dieser Welt zustande, sondern wird mir geschenkt, indem ich auf die Gegenwart und Barmherzigkeit des Lebendigen Gottes vertraue.
53 Feinde Christi und des Papstes sind diejenigen, die anordnen, wegen der Ablasspredigten habe das Wort Gottes in den anderen Kirchen völlig zu schweigen. Deshalb ist es die Aufgabe der kirchlichen Verkündigung, hinzuweisen auf und durchsichtig zu werden für die barmherzige Gegenwart Gottes, wie sie uns in Jesus Christus begegnet.
54 Unrecht geschieht dem Wort Gottes, wenn in ein und derselben Predigt den Ablässen gleichviel oder längere Zeit gewidmet wird wie ihm selbst. Dieser Aufgabe wird die Verkündigung nicht gerecht, wenn sie die Kraft und Wichtigkeit der kirchlichen Institutionen und Leitlinien zu sehr in den Vordergrund rückt oder gar ins Zentrum stellt.
55 Meinung des Papstes ist unbedingt: Wenn Ablässe, was das Geringste ist, mit einer Glocke, einer Prozession und einem Gottesdienst gefeiert werden, dann muss das Evangelium, das das Höchste ist, mit hundert Glocken, hundert Prozessionen, hundert Gottesdiensten gepredigt werden. In allem kirchlichen Handeln (Gottesdienst, Seelsorge, Diakonie, …) muss der Unterschied klar bleiben zwischen dem Zentrum (der Freudenbotschaft von Gottes barmherziger Nähe) und dem, was auf dieses Zentrum hinweist bzw. aus diesem Zentrum entspringt.
56 Die Schätze der Kirche, aus denen der Papst die Ablässe austeilt, sind weder genau genug bezeichnet noch beim Volk Christi erkannt worden. Gottes Barmherzigkeit ist unermesslich, kann also nicht gemessen oder be- und verrechnet werden. Deshalb kann sie auch nicht wie Geld, Immobilien oder Ähnliches von einer kirchlichen Administration verwaltet werden.
57 Zeitliche Schätze sind es offenkundig nicht, weil viele der Prediger sie nicht so leicht austeilen, sondern nur einsammeln. Eine solche Administration neigt dazu, eher geizig zu sein mit den Gütern, die sie verwaltet. Sie ist deshalb denkbar ungeeignet, für Gottes unermessliche Großherzigkeit zuständig zu sein.
58 Es sind auch nicht die Verdienste Christi und der Heiligen; denn sie wirken ohne Papst immer Gnade für den inneren Menschen, aber Kreuz, Tod und Hölle für den äußeren. Gottes Barmherzigkeit ereignet sich ganz ohne menschliches Berechnen in der persönlichen und vertrauensvollen Begegnung mit Ihm selbst. Die Kirchen bringen uns nur auf den Weg dorthin.
59 Der heilige Laurentius sagte, die Schätze der Kirche seien die Armen der Kirche. Aber er redete nach dem Wortgebrauch seiner Zeit. Gottes Barmherzigkeit und Gegenwart ereignet sich zum Beispiel dort, wo Menschen sich gegenseitig wahrhaft nahe sind.
60 Wohlüberlegt sagen wir: Die Schlüsselgewalt der Kirche, durch Christi Verdienst geschenkt, ist dieser Schatz. Barmherzigkeit lässt sich zwar nicht kirchlich verwalten. Aber die in den Kirchen bewahrte jahrhundertelange Glaubens- und Vertrauenserfahrung mit Gottes Barmherzigkeit kann dennoch sehr hilfreich sein – wenn sie nicht zum Gesetz wird.
61 Denn es ist klar, dass für den Erlass von Strafen und von ihm vorbehaltenen Fällen allein die Vollmacht des Papstes genügt. Aus dieser Erfahrung der Kirche mit Gottes Gegenwart schöpfen Vertreter/innen der Kirchen, wenn sie predigen, taufen, Abendmahl austeilen, seelsorglich tätig sind … Aus dieser Erfahrung speist sich auch ihr Zuspruch der Vergebung (und nicht aus einem kirchlich-administrativen Recht dazu).
62 Der wahre Schatz der Kirche ist das heilige Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes. Im Zentrum der Verkündigung und der Kirche steht allein das Evangelium, die frohe Botschaft, durch die Menschen der Gegenwart und Barmherzigkeit des Lebendigen Gottes begegnen. Alles kirchliche Handeln (Verkündigung, Sakramente, Gebet, Gesang usw.) dient dieser Begegnung.
63 Er ist aber aus gutem Grund ganz verhasst, denn er macht aus Ersten Letzte. Viele Menschen haben allerdings Schwierigkeiten damit, Gott mit leeren Händen, nur auf Seine Barmherzigkeit vertrauend, zu begegnen.
64 Der Schatz der Ablässe ist hingegen aus gutem Grund hochwillkommen, denn er macht aus Letzten Erste. Lieber wäre es ihnen, wenn sie in der Begegnung mit Gott irgendetwas vorweisen könnten, um sich damit vor Ihm (und vor sich selbst und anderen Menschen) zu rechtfertigen.
65 Also sind die Schätze des Evangeliums die Netze, mit denen man einst Menschen von Reichtümern fischte. Das Evangelium und das daraus entspringende wahre Gottvertrauen befreit Menschen von dem Druck, sich durch eigene Leistung ihren Wert als Person erarbeiten zu müssen.
66 Die Schätze der Ablässe sind die Netze, mit denen man heutzutage die Reichtümer von Menschen abfischt. Mit solcher Freiheit lässt sich aber kein Geschäft machen. Es ist lukrativer, die Menschen glauben zu lassen, sie könnten selbst etwas tun, um als Person wertvoll zu sein.
67 Die Ablässe, die die Prediger als „allergrößte Gnaden“ ausschreien, sind im Hinblick auf die Gewinnsteigerung tatsächlich als solche zu verstehen. „Wertvoll“ (nämlich reich oder zumindest hochgeschätzt) macht solche dem Evangelium widersprechende Botschaft meist nur ihre Verkünder.
68 Doch in Wahrheit sind sie die allerkleinsten, gemessen an der Gnade Gottes und seiner Barmherzigkeit im Kreuz. Wahrhaft wertvoll bin ich als Person unabhängig von meinem Tun und Lassen – nämlich für den Schöpfer, dessen Barmherzigkeit in Jesus Mensch wurde. Er blieb sogar dann noch barmherzig, als ihm das den Tod am Kreuz einbrachte.
69 Bischöfe und Pfarrer sind verpflichtet, die Kommissare der apostolischen Ablässe mit aller Ehrerbietung walten zu lassen. Kirchliche Institutionen sind für ein gelingendes gemeinsames Glaubensleben wichtig und deshalb prinzipiell zu achten.
70 Aber noch stärker sind sie verpflichtet, mit scharfen Augen und offenen Ohren darauf zu achten, dass die Kommissare nicht anstelle des Auftrags des Papstes ihre eigenen Einfälle predigen. Aber die Institutionen mit ihren Ordnungen und Regelungen dienen wie alles kirchliche Handeln dem Evangelium. Die einzelnen Christen und die Ortsgemeinden dürfen und sollen deshalb das Handeln der Institutionen am Maßstab des Evangeliums messen.
71 Wer gegen die Wahrheit der apostolischen Ablässe redet, der soll gebannt und verflucht sein. Daher: Wer kirchliche Institutionen mit ihren Ordnungen und Regelungen pauschal ablehnt (was nicht selten aus offen oder versteckt egoistischen Motiven geschieht), der schadet der Gemeinschaft der Glaubenden.
72 Wer aber seine Aufmerksamkeit auf die Willkür und Frechheit in den Worten eines Ablasspredigers richtet, der soll gesegnet sein. Wer aber Tendenzen der Verselbständigung kirchlicher Institutionen begründet (vom Maßstab des Evangeliums her) kritisiert, erweist der Gemeinschaft der Christen einen wichtigen Dienst.
73 Wie der Papst mit Recht den Bann gegen die schmettert, die mit einigem Geschick etwas zum Schaden des Ablasshandels im Schilde führen, Die Kirchenleitungen dürfen und sollen hilfreiche kirchliche Ordnungen und Regelungen gegen Verunglimpfung und pauschale Kritik verteidigen.
74 so viel mehr beabsichtigt er, den Bann gegen die zu schmettern, die unter dem Deckmantel der Ablässe etwas zum Schaden der heiligen Liebe und Wahrheit im Schilde führen. Zugleich ist es ihre Aufgabe, sich verselbständigende und/oder dem Eigennutz dienende Institutionen und Angebote auf dem „Markt der Heilsversprechungen“ zu kritisieren – die eigenen genauso wie diejenigen anderer Kirchen, Religionen, religiöser, spiritueller, esoterischer o.ä. Bewegungen, Fitness-Gurus, Politiker … [siehe auch These 24]
75 Zu glauben, die päpstlichen Ablässe seien derart, dass sie einen Menschen absolvieren könnten, selbst wenn er – gesetzt den unmöglichen Fall – die Gottesgebärerin vergewaltigt hätte, das ist verrückt sein. Insbesondere sind überzogene Versprechungen von Heil, Erlösung, Versöhnung, innerem und äußerem Frieden, Lebenssinn, Heilung usw. zu kritisieren und als uneinlösbar zu entlarven.
Denn zur Erfüllung unserer tiefsten Sehnsucht gibt es keine Patentrezepte oder gar die Möglichkeit, einen Anspruch darauf zu erwerben. [siehe These 33 & 34]
76 Wir sagen dagegen: Die päpstlichen Ablässe können nicht einmal die kleinste der lässlichen Sünden tilgen, was die Schuld betrifft. Der Erfüllung meiner Sehnsucht nach innerem und äußerem Frieden, Versöhnung, Lebenssinn, Heil usw. komme ich nur auf meinem persönlichen Weg mit meinen Mitgeschöpfen im Licht der Gegenwart und Liebe Gottes näher. Ich erreiche sie nicht durch eine exakt zu befolgende (evtl. zu bezahlende) Methode. [siehe These 35-37]
77 Dass gesagt wird, selbst wenn der heilige Petrus jetzt Papst wäre, könnte er nicht größere Gnaden gewähren - das ist Blasphemie gegen den heiligen Petrus und den Papst. Die Institution Kirche darf bei der Selbstdarstellung ihrer geistlichen Möglichkeiten keinesfalls übertreiben und sich dadurch in ein Licht rücken, das in Wahrheit nur Gott selbst und seiner Barmherzigkeit innewohnt.
78 Wir sagen dagegen: Auch dieser [Petrus] und jeder Papst haben noch größere Gnaden, nämlich das Evangelium, Wunderkräfte, Gaben, gesund zu machen, wie 1 Kor 12,28. Stattdessen ist es Aufgabe der Kirche, Gottes barmherzige Gegenwart zu bezeugen, aus dieser Gegenwart zu leben und so den Menschen das Licht Gottes und seiner Barmherzigkeit nahezubringen – nicht das eigene Licht.
79 Zu sagen, das mit dem päpstlichen Wappen ins Auge fallend aufgerichtete Kreuz habe den gleichen Wert wie das Kreuz Christi, ist Blasphemie. Dabei muss immer klar bleiben, dass die Kirche (und jede religiöse oder quasireligiöse Gemeinschaft / Lehre / Institution / …) Teil dieser Welt ist, also menschlich, fehlerbehaftet, vergänglich und somit selbst auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen.
80 Rechenschaft werden die Bischöfe, Pfarrer und Theologen zu geben haben, die zulassen, dass solche Predigten vor dem Volk feilgeboten werden. Es ist Aufgabe der Kirchenvertreter/innen (insbesondere in Lehr- und Leitungsämtern) darauf zu achten, dass die eigenen und auch andere religiöse Institutionen, Ordnungen, Regeln, Lehren oder gar Personen nicht an Gottes Stelle treten und so zum Abgott werden.
81 Diese unverfrorene Ablassverkündigung führt dazu, dass es selbst für gelehrte Männer nicht leicht ist, die Achtung gegenüber dem Papst wiederherzustellen angesichts der Anschuldigungen oder der gewiss scharfsinnigen Fragen der Laien. Wenn kirchliche Regeln, Ordnungen und Lehren die liebende Zuwendung zu den Menschen und die seelsorgliche Begleitung von Menschen auf dem Weg des Glaubens, der Versöhnung, der Liebe behindern, dann beschädigt dies die Glaubwürdigkeit der frohen Botschaft.
82 Zum Beispiel: Warum räumt der Papst das Fegfeuer nicht aus um der heiligsten Liebe willen und wegen der höchsten Not der Seelen als dem berechtigtsten Grund von allen, wenn er doch unzählige Seelen loskauft wegen des unseligen Geldes zum Bau der Basilika als dem läppischsten Grund. Jesus hat seinen Mitmenschen Gottes heilvolle Nähe zugesagt, ohne Vorbedingungen zu stellen – aus Liebe zu ihnen und Sorge um sie.
83 Wiederum: Warum bleibt es bei den Messen und Jahrgedächtnissen für die Verstorbenen, und warum gibt er die dafür eingerichteten Stiftungen nicht zurück oder erlaubt deren Rücknahme, wo es doch schon Unrecht ist, für [vom Fegfeuer] Erlöste zu beten? Es widerspricht daher Jesu Botschaft und Handeln, wenn Gottes Nähe, Gottes Barmherzigkeit der (weltlichen) Logik von Geben und Nehmen unterworfen wird. (vgl. Matthäus 20,1-15)
84 Wiederum: Was ist das für eine neue Barmherzigkeit Gottes und des Papstes, dass sie einem Gottlosen und einem Feindseligen um Geldes willen zugestehen, eine fromme und Gott befreundete Seele loszukaufen? Gleichwohl befreien sie diese fromme und geliebte Seele nicht aus uneigennütziger Liebe um deren eigener Not willen. Erst recht widerspricht es dem Evangelium, die tiefsten Ängste der Menschen auszunutzen statt ihnen diese Ängste durch die Zusage von Gottes Nähe zu nehmen.
85 Wiederum: Warum werden die kirchlichen Bußsatzungen, die der Sache nach und durch Nicht-Anwendung schon lange in sich selbst außer Kraft gesetzt und tot sind, gleichwohl noch immer durch Bewilligung von Ablässen mit Geldern gerettet, als steckten sie voller Leben? Darum dürfen die christlichen Kirchen Gott oder Jesu Botschaft nicht instrumentalisieren, um bestimmte Moralvorstellungen (durch religiöse Idealisierung) durchzusetzen und andere (durch Strafandrohung in Gottes Namen oder Ähnliches) abzuwerten.
86 Wiederum: Warum baut der Papst, dessen Reichtümer heute weit gewaltiger sind als die der mächtigsten Reichen, nicht wenigstens die eine Basilika des Heiligen Petrus mehr von seinen eigenen Geldern als von denen der armen Gläubigen? Auch wenn dies scheinbar aus Sorge um ein gutes Zusammenleben der Menschen geschieht, so dient es doch in Wahrheit kirchlichen (und gesellschaftlichen) Machtinteressen.
87 Wiederum: Was gibt der Papst denen als Erlass oder Anteil, die durch vollkommene Reue ein Recht auf vollen Erlass und vollen Anteil haben? In Jesu Botschaft und Handeln aber geht es darum, die Gräben zwischen Mensch und Gott, zwischen Mensch und Mensch nicht durch Machtausübung, sondern durch das Licht der Gegenwart Gottes zu überwinden, das uns die Wahrheit über uns selbst und unser Leben zeigt und uns auf einen Weg der Vergebung, der Versöhnung (und des Machtverzichts) führt.
88 Wiederum: Was könnte der Kirche einen größeren Vorteil verschaffen, als wenn der Papst, wie er es einmal tut, hundertmal am Tag jedem Gläubigen diese Erlässe und Anteile gewährte? Die frohe Botschaft, der wahre Schatz der Kirche [siehe These 62], handelt davon, dass sogar Gott selbst auf die Ausübung seiner Macht über die Menschen verzichtet, um sie stattdessen für sie (und alle Geschöpfe) einzusetzen – um einen hohen Preis.
89 Vorausgesetzt, der Papst sucht durch die Ablässe mehr das Heil der Seelen als die Gelder - warum setzt er dann schon früher gewährte Schreiben und Ablässe außer Kraft, obgleich sie doch ebenso wirksam sind? Das Leben Jesu und die Bibel insgesamt zeigen uns: Der lebendige Gott sorgt sich um ein wahrhaft gelingendes gemeinsames Leben der Menschen und der Schöpfung insgesamt.
Das Leben, Verkündigen und Handeln der Kirche sollte von dieser frohen Botschaft geprägt sein.
90 Diese scharfen, heiklen Argumente der Laien allein mit Gewalt zu unterdrücken und nicht durch Gegengründe zu entkräften, heißt, die Kirche und den Papst den Feinden zum Gespött auszusetzen und die Christen unglücklich zu machen. Wo diese Prägung durch die frohe Botschaft verloren geht oder zu gehen droht, hat jeder Christ das Recht und die Freiheit, solche Fehlentwicklungen zu kritisieren.
91 Wenn also die Ablässe nach dem Geist und im Sinne des Papstes gepredigt würden, wären alle jene Einwände leicht aufzulösen, ja, es gäbe sie gar nicht. Solche Kritik vom Inhalt der frohen Botschaft her ist notwendig und heilsam. Sie gleicht dem Öffnen von Fenstern in einer stickigen Wohnung. Dadurch bleibt die Kirche lebendig und wird immer neu von Gottes Geist durchströmt.
92 Mögen daher all jene Propheten verschwinden, die zum Volk Christi sagen: Friede, Friede!, und ist doch nicht Friede. Wer den Menschen verkündigt „Gott ist bei dir, wenn du dies und das (Gute) tust.“, der verdreht die frohe Botschaft in ihr Gegenteil. Denn er redet zwar von Gottes Gegenwart, aber in einer Art und Weise (nämlich unter weltlichen Bedingungen), die von Gottesferne geprägt ist.
93 Möge es all den Propheten wohlergehen, die zum Volk Christi sagen: Kreuz, Kreuz!, und ist doch nicht Kreuz. Die frohe Botschaft lautet vielmehr: „Gott ist Da. Seine Gegenwart erleuchtet dein Leben. In Seinem Licht werden zwar auch deine Versäumnisse, Mängel, Fehler und Schuld sichtbar. Aber es ist dennoch, ja gerade deshalb das Licht unermesslicher Barmherzigkeit und Liebe, in dem du geborgen bist mit allem, was dich als Person ausmacht.“
94 Man muss die Christen ermutigen, darauf bedacht zu sein, dass sie ihrem Haupt Christus durch Leiden, Tod und Hölle nachfolgen. Diese frohe Botschaft ermutigt mich, meinen Lebensweg im Licht von Gottes Gegenwart als Weg der Liebe und Barmherzigkeit zu gehen, auch wenn das schmerzhafte Konsequenzen haben kann – innerlich wie äußerlich.
95 Und so dürfen sie darauf vertrauen, eher durch viele Trübsale hindurch in den Himmel einzugehen als durch die Sicherheit eines Friedens. In und mit allen erfreulichen und traurigen Wendungen und Verstrickungen meiner persönlichen Lebensgeschichte darf ich mich ohne Angst vom Licht Gottes erleuchten lassen. Diese Gewissheit erfüllt meine tiefste Sehnsucht nach Gott; nicht dagegen die (scheinbare) Sicherheit, diese oder jene Regel(n) befolgt zu haben.